Im Wirbel um die „plötzliche und unerwartete“ Übersterblichkeit, die der Datenanalyst Tom Lausen im Auftrag eines AfD-Abgeordneten am 12.12.2022 enthüllte, geriet eine Organisation namens „KV“ oder „KBV“ ins Blitzlicht, die ein deutsches Unikum ist und bevorzugt im Verborgenen agiert. Eigentlich wollte diese „KBV“ die Abrechnungsdaten zurückhalten, aber auf juristische Weisung musste sie liefern. Wer ist dieser Datenmonopolist?

„KV“ steht für „Kassenärztliche Vereinigung“. Das zwischengeschaltete „B“ für die Bundesorganisation von 17 Landesorganisationen, die die flächendeckende ambulante Versorgung der Bevölkerung mit Haus- und Fachärzten in den 16 deutschen Bundesländern gewährleisten sollen. Nordrhein-Westfalen leistet sich aus historischen Gründen zwei Teilorganisationen; denn die KV ist ein Relikt der 1930er Jahre. Trotz des existenzgebenden Versorgungsauftrages entspricht die Verteilung der Kassenärzte auch nach mehr als 7 Jahrzehnten Friedenszeit noch immer nicht der Bevölkerungsnachfrage. Vertragsärzte sind nicht da, wo sie benötigt werden, sondern da, wo es sich lohnt.i Wie andere Berufsgruppen konzentrieren sie sich in Städten.

Ungeachtet ihres öffentlich-rechtlichen Status handelt es sich bei den KVen um Zunftorganisationen, die neben der Eigenversorgung der Funktionäre ein Kartell für die Vertragsärzte bilden. Unter Ausschaltung von Marktgesetzen sollen am Kuchen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zu viele und vor allem nicht die Falschen naschen. In den 1930er Jahren achtete man darauf, dass die Kassenärzte die richtige Weltanschauung hatten und keine Juden oder Kommunisten waren. Seit dem 2. Weltkrieg sollen neue Mitglieder die Kreise bereits etablierter Kassenärzte nicht stören und pflegeleicht sein. Es ist kein Wunder, dass die KVen über Jahrzehnte Versorgungslücken nicht geschlossen haben.

Neben der Abschottung des Marktes für die Kassenärzte ist die Verhandlung und Verteilung der Honorare an die ärztlichen Leistungserbringer der Hauptfokus. Eine Leistung, die gesetzlich überhaupt nicht vorgesehen ist. Die KVen haben sich diese einfach angemaßt, um die eigene Macht auszubauen und die Geldflüsse möglichst intransparent zu gestalten. Während in anderen Ländern Krankenversicherungen das Honorar für erbrachte Leistungen direkt an die Ärzte auszahlen oder die Versicherten die Rechnung vor Ort berappen und sich die Kosten von ihren Versicherungen zurückerstatten lassen (z.B. Frankreich), kanalisieren in Deutschland die KVen die Geldströme. Die Krankenkassen verhandeln ein Honorarvolumen mit der KBV, die dieses Honorar in einem von den Funktionären bestimmten Verteilungsschlüssel in Form von Punkten mit Mengenbegrenzungen und Sondertöpfen an die verschiedenen Arztgruppen weiterleitet.

Die Kostenträger erhalten Daten über erbrachte Leistungen nur so differenziert wie die KVen dies weitergeben. Dabei setzen die KVen ohne Rücksprache mit den Ärzten immer wieder Abrechnungspositionen hinzu, ohne zu prüfen, ob diese überhaupt erbracht wurden. Die Kostenträger haben keinen klaren Überblick und zahlen in der Regel, ohne Richtigkeit und Plausibilität zu prüfen. Auf der anderen Seite wissen die Vertragsärzte prospektiv nie, welcher Erlös mit welcher Leistung verbunden ist und stellen manchmal jahrzehntelang nicht fest, dass die Vergütungen nicht korrekt sind.

Die Anfälligkeit für systematischen Betrug ist in diesem System hoch, ohne dass er so benannt oder gezielt verfolgt würde. Juristen bezeichnen eine derartige Konstellation als „deliktsförderliche Tatgelegenheitsstruktur.“ii Schon 1975 wurde innerhalb des Kassenarztsystems Abrechnungsbetrug in einem Volumen von 5 Milliarden Euro angenommen.iii Die Abrechnung von „Luftleistungen“, die gar nicht erfolgten, ist kaum feststellbar und die Vigilanz gering. Eine Gegenkontrolle durch die „Gesundheitskunden“, an denen die Leistungen erbracht wurden, findet nicht statt.

Sichergestellt ist immer, dass die KVen ein nicht unbeträchtliches Stück des Kuchens für sich und ihre Funktionäre beanspruchen, die meisten Kassenärzte die Abrechnung nicht verstehen und die Kostenträger die Entwicklung einzelner Leistungen nicht frühzeitig einschätzen können. Mit einem Verwaltungsmoloch von mehr als 12.000 Mitarbeitern – im Durchschnitt 1 Mitarbeiter pro 13 Kassenärzte – vernichten die 17 Landesorganisationen und die Bundes-KV jährlich mehr als 1 Milliarde Euro des Honorarvolumens von etwa 40 Milliarden Euro für ihre eigene Administration.iv

In den vergangenen Jahren haben KVen immer wieder mehr Honorar von den Kostenträgern einbehalten als an die Leistungserbringer ausbezahlt. Neben steigenden Ausgaben wurden damit auch Vermögen in 2-stelliger Millionenhöhe aufgebaut.v Wen wundert es, dass solche Mezzanin-Geschäfte die Begehrlichkeiten gieriger Funktionäre weckten.vi KBV-Vorstände bringen es mit Jahresbezügen bis knapp 500.000€ für ihre Teilzeitbeschäftigung neben eigener Praxis zu Rekordhaltern unter den Gesundheitsfunktionären. Die KBV-Vorsitzenden haben ohnehin nicht übermäßig viel Verantwortung, da die KBV als übergeordnetes Beratungsgremium für die Landes-KVen diesen gegenüber keine Weisungsbefugnis hat.

Man könnte von einer „Mafia“ sprechen, deren Hoheit über die Honorarverhandlungen und –verteilung die Zwangsbeiträge der Kassenärzte nur notdürftig als Schutzgeldzahlungen kaschiert. Diese Betrachtungsweise ist nicht abwegig, da Kassenärzte ohne ausreichend Privatpatienten scheinselbständig sind, wenn ihre Bezahlung überwiegend in den Händen der zugehörigen KV liegt und diese über ihren Status als Kassenarzt entscheidet. Kassenärzte buchstabieren das Kürzel „KV“ daher auch schon einmal als „Kriminelle Vereinigung“, wenn die Honorarauszahlungen mit einem Verzug bis zu 12 Monaten ohne Zinsen erfolgen.

Referenzen

i Klose J, Rehbein I: Ärzteatlas 2016 – Daten zur Versorgungsdichte von Vertragsärzten. Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), Berlin 2016

ii Kölbel R: Die Prüfung der Abrechnung von Krankenhausleistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Bewertung aus kriminologischer Perspektive. Gutachten für den AOK-Bundesverband

iii Blüchel KG: Heilen verboten, töten erlaubt. C. Bertelsmann Verlag, München 2003, 2. Auflage

iv https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Krankenhaeuser/Methoden/Krankenhausstatistik.html; letzter Zugriff am 19.08.2016

v http://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/berufspolitik/ article/679968/kv-berlin-senkt-verwaltungskosten.html; letzter Zugriff am 08.07.2016

vi Dowideit S: So leidet Deutschland unter dem Ärzte-Kartell. Die Welt vom 28.07.2015


Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wieder.

Dr. med. Gerd Reuther ist Arzt und Medizinhinhistoriker. Er ist Autor der Bücher „Der betrogene Patient“, „Heilung Nebensache“

und „Letzte Tage – verkannte und vertuschte Todesursachen“.

Quelle: tkp.at