26.06.23 (1)

Von Martin Müller-Mertens
24. Juni 2023

Lesezeit: 4 Min.

Noch ist Russlands wohl längster Tag seit Beginn der Ukraine-Krieges nicht beendet. Klar scheint jedoch: Auf Vermittlung von Weißrusslands Staatschef Alexandr Lukaschenko dreht die Privatarmee Wagner unter dem Kommando von Jewgeni Prigoschin ab. Der große Verlierer des Tages heißt Wladimir Putin: Noch nie seit seiner Machtübernahme im Jahr 2000 hat man ihn so schwach gesehen wie heute. Sind seine Tage gezählt – und was bedeutet das für Europa?

Zunächst gilt es abzuwarten, welchen Preis der Kreml für das Ende eines Aufstandes bezahlen muss, den er offensichtlich nicht niederschlagen konnte. Denn nicht nur die regulären Streitkräfte ließen die Wagner-Truppen ungehindert bis fast an den Moskauer Gartenring vorrücken. Auch die Spezialkräfte der Geheimdienste, die SpezNaz, verhielten sich passiv. 

Vieles deutet also darauf hin, dass sich ein massiv geschwächter Wladimir Putin und ein auf dem vorläufigem Zenit seiner Macht befindlicher Prigoschin die Macht auf irgendeine Art und Weise teilen werden. Dies könnte auf die Beförderung des Wagner Chefs – der aus der sowjetischen Mafia der „Diebe im Gesetz“ stammt – in die Reihen in der russischen Machtvertikale bedeuten. Ob nun formell oder informell. Also praktisch ein erzwungenes Bündnis zwischen den Putin tragenden Geheimdiensten und dem organisierten Verbrechen auf Kosten der blamierten Armeeführung.

Prigoschin und Kadyrow – Warlords, die Putin erfunden hat 

Diese Entwicklung kommt nicht völlig überraschend. Seit mehreren Jahren ließ Putin die eigentlich verbotenen Privatarmeen Prigoschins, aber auch des Tschetschenischen Republikenchefs – und faktischen Warlords – Ramsan Kadyrow gewähren und positionierte sie praktisch als Gegengewicht zu den offiziellen militärischen Strukturen. Zudem scheint Putin zuletzt zunehmend isoliert innerhalb der Moskauer Kremlmauern. Der lange Tisch, an dem er während der Corona-Zeit seine Gäste empfing, war dafür zumindest eine Illustration. Ein solcher Machtkampf wäre im Übrigen keine Premiere. Er erinnert an die Auseinandersetzungen in der Sowjetunion, etwa zwischen Innenministerium und KGB.

Auch könnte Russland nach wie vor in einem Bürgerkrieg zerfallen. Denn in der Peripherie des Riesenreiches konnten Widersprüche zum Zentrum bislang nur durch eine Kraft gebändigt werden, die der Kreml nun wohl verloren hat. Die auf Kadyrow eingeschworene Truppe der sogenannten Kadyrowzie blieben auffallend passiv. 

„Wladimir allein zu Haus“: Putin wankte deutlich

Russland wird im Inneren instabiler, auch wenn Putin heute nochmals mit dem Schrecken davonkommen sollte – sein Nimbus vom starken Mann, der mit männlich breiter Brust durch die Landschaft reitet, ist passé. Seine Rede heute Morgen offenbarte eine für den Kremlherrscher noch nie gezeigte Schwäche, als Putin an die Putschisten appellierte umzukehren. Hier spürte man wenig von der alten Macht und Überlegenheit des ehemaligen KGB-Mannes, die früher immer so glänzend aufblitzen ließ. 

Er schien auf sich allein gestellt und nichts mehr in der Hinterhand zu haben. Von großen Solidaritätsbekundungen zu ihm und seinem Regime war den ganzen Tag über wenig zu merken: Was für ein Unterschied zum Putschversuch vom August 1991, den das Volk durch seinen Widerstand binnen kürzester Zeit zusammenbrechen ließ!

Im Kriegsfall zählt aber ohnehin fast ausschließlich das Militär – und dessen „vornehme Zurückhaltung“ war zweifelsohne die große Überraschung. Dass der Geheimdienstler Putin von all dem, was sich da um ihn herum seit Wochen oder vielleicht schon seit Monaten zusammengebraut hat, nichts mitbekommen hat, klingt fast schon unglaublich. Und entzaubert ihn nach dem bislang schon für die russische Seite desaströsen Verlauf des Ukraine-Krieges endgültig. Das sollten auch jene erkennen, die sich Putin als Alternative zu USA, NATO und den westlichen Globalisten gewünscht haben.

Prost, Mahlzeit: Mafia-Oligarch Prigoschin als Präsident?

Doch was bedeutet diese Entwicklung für Deutschland und Europa? Egal, ob mit Prigoschin als Präsident – was nach dem zumindest vorläufigem Einlenken kurzfristig unwahrscheinlich ist – als auch mit Putin als Marionette einer Zwischenherrschaft in einem ungeklärten Machtkampf von FSB und Mafia: Die Atommacht Russland und ihr imperiales Selbstverständnis wären so oder so kein objektiver und schon gar kein subjektiver Verbündeter einer deutschen Souveränitätsbewegung. Im Gegenteil: Eine solche Entwicklung könnte dazu führen, dass der westliche Globalismus auch von Teilen der deutschen Opposition als scheinbar gemäßigte Alternative betrachtet wird.

Das Heil Europas kommt weder aus Moskau noch aus Washington

Der Putschversuch ist daher im objektiven Interesse der Globalisten und ihres „Great Reset“. Zudem zeigt sich: Eine souveräne deutsche Entwicklung kann und darf nicht auf einen Wechsel des Hegemon setzen. Ein bloßes „Moskau statt Washington“ führt nicht zur Befreiung, sondern im Zweifel zur Unterordnung unter Herrscher vom Schlage eines Mafia-Oligarchen Prigoschin. Deutschland braucht Selbständigkeit von allen Großmächten.

„Great Reset“ der Globalisten könnte noch radikaler umgesetzt werden

Der Blick darf jedoch angesichts der Ereignisse nicht nur in Richtung Moskau gehen. Denn der Westen hatte schon lange auf Widersprüche innerhalb Russlands gesetzt, diese womöglich auch befördert. Die Globalisten werden sich durch die Ereignisse also in ihrer angeblichen Überlegenheit bestätigt fühlen und den Kurs der Transformation sowohl beschleunigen, also auch radikalisieren. Dies stellt die echte Opposition, als jene, die für ein Europa der freien Völker eintreten, vor neue Herausforderungen. Die Gefahr des „Great Reset“ ist durch Prigoschins Putsch nicht kleiner, sondern größer geworden.

Kommt jetzt die Wende im Ukraine-Krieg?

Doch welche Folgen hat der Putsch – mehr noch, der nun bekannt gewordene Kompromiss (Straffreiheit für Prigoschin und seine Söldner etc.) – für den Krieg in der Ukraine? Kiews Streitkräfte hatten ihre Hauptkräfte in den vergangenen Wochen offenbar zurückgehalten. Wahrscheinlich, weil sie über die Putschpläne informiert waren – denn diese wurden vermutlich von westlichen Geheimdiensten aufgeklärt, für die Priogoschins Vorstoß ein regelrechtes Fest darstellt. 

Am Sonnabend begannen nach Medienberichten nun ukrainische Vorstöße, die auf eine weitgehend entblößte Front treffen dürften. Nicht ohne Grund verkündete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Laufe des Tages, jedwede Auseinandersetzung innerhalb Russlands sei im Interesse Kiews.

 

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