Im Westen fordern immer mehr Politiker, Putin zu stürzen. Das ist ein Zeichen dafür, wie wenig man im Westen über das heutige Russland weiß, denn ohne Putin würde Russland noch viel anti-westlicher agieren.

Im Westen hört man immer öfter, mit einem Russland unter Putin dürfe man nicht verhandeln. Das ist die offene Forderung, in Russland einen Regimechange durchzuführen. Allerdings zeigt diese Forderung westlicher Medien und Politiker, dass sie von Russland rein gar nichts verstehen.

Eine Farbrevolution in Russland?

Offenbar meinen diejenigen, die die Forderung stellen, mit einem Russland unter Putin nicht mehr zu verhandeln, in Russland solle es eine Farbrevolution geben, so wie etwa 2014 den Maidan in der Ukraine. Diese Vertreter des Westens verkennen dabei eines: In der großen Mehrheit der russischen Gesellschaft hat das Modell der westlichen Demokratie einen schlechten Ruf. Die „westliche Demokratie“ durften die Russen in den 90er Jahren erleben und das war für Russland die wahrscheinlich schwärzeste Zeit des 20. Jahrhunderts. In Russland herrschten damals Gesetzlosigkeit, auf Korruption basierende polizeiliche Willkür und die staatlichen Institutionen waren faktisch zusammengebrochen.

Anstatt dagegen etwas zu tun hat der Westen dieses kaputte Russland als „Partner“ gefeiert, während die Menschen verarmt und Willkür auf allen Ebenen ausgesetzt waren. Die ohnehin viel zu niedrigen Gehälter wurden oft Monate lang nicht bezahlt und sich an staatliche Stellen zu wenden, um auch nur zum Beispiel einen Raub anzuzeigen, war sinnlos.

Natürlich gibt es in Russland eine junge Generation, die sich daran nicht mehr erinnert und die daher empfänglich ist für die Propaganda des Westens über angebliche Demokratie und Wohlstand. Aber das ist eine Minderheit, denn die Mehrheit erinnert sich an die 90er Jahre und sie hat mit einem Blick auf die nach dem Maidan 2014 angeblich demokratische Ukraine gesehen, dass die „westliche Demokratie“, wenn sie in Staaten der ehemaligen Sowjetunion aufgebaut wird, zu Zuständen führt, die wie in Russland in den 90er Jahren gewesen sind. Oder – siehe den Krieg im Donbass seit dem Maidan – es wird noch schlimmer.

Gleichzeitig sehen alle in Russland das Beispiel der Krim, die sich 2014 mit Russland vereinigt hat, und jeder sieht, dass der Lebensstandard auf der Krim wesentlich höher ist als in der Ukraine, zu der die Halbinsel davor gehörte.

Traditionell sind die beiden größten russischen Städte, also Moskau und St. Petersburg, der eigenen Regierung gegenüber am kritischsten eingestellt und empfänglich für westliche Propaganda. Im Rest Russlands hingegen ist die Stimmung sehr regierungsfreundlich. Die wenigen selbsternannten westlichen „Russlandexperten“, die überhaupt mal in Russland gewesen sind, lassen sich offensichtlich von dem täuschen, was sie in Moskau erleben, und sind daher der Meinung, ein Maidan wäre in Russland möglich.

Warum eine Farbrevolution in Russland unrealistisch ist

Farbrevolutionen funktionieren immer nach einem recht einfachen Prinzip. Westliche NGOs, zum Beispiel die Open Society Foundations von George Soros oder das National Endowment for Democracy, bauen sich in dem betreffenden Land Netzwerke auf, die sie finanzieren und die von den NGOs abhängig werden. Und natürlich ist dabei immer eine Menge Geld im Spiel.

Diese Netzwerke werden zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiviert und bringen ihre Sympathisanten auf die Straße. Dabei handelt es sich zwar um eine Minderheit im Land, aber die Bilder großer Proteste vermitteln ein anderes Bild. Der Westen ist dann immer ganz begeistert von der „Demokratiebewegung“ und unterstützt sie nach Kräften.

Im Westen weiß man, wie so etwas funktioniert, man hat es schließlich selbst oft genug umgesetzt. Daher wäre es zum Beispiel in Deutschland unmöglich, dass echte Regierungsgegner eine Zeltstadt am Brandenburger Tor errichten und dort monatelang – vollkommen ohne Genehmigung der Behörden – ein riesiges Protestcamp aufbauen, von dem aus auch Gewalt gegen die Polizei ausgeht. So etwas würde im Westen in den ersten Stunden im Keim erstickt werden.

Beim Maidan war es aber genau so: Einige Protestler, es waren zu Anfang weniger als hundert, haben auf dem Maidan Zelte aufgebaut und sind trotz behördlicher Anweisung nicht wieder gegangen. Hätte die damalige Regierung in Kiew einfach nur auf die Einhaltung der Gesetze gedrängt und diese Show sofort konsequent beendet, hätte es wahrscheinlich keinen Maidan gegeben, denn die Demonstranten brauchten zehn Tage, bis sie den ersten großen Protest auf dem Maidan organisieren konnten. Die Chronologie des Maidan können Sie auf den ersten hundert Seiten meines Buches über die Ukraine-Krise nachlesen.

Auch die russische Regierung kennt die Vorgehensweise der Regimechange-Spezialisten des Westens genau. Daher hat Russland vor einiger Zeit durchgegriffen und alle westlichen NGOs, die dafür bekannt sind, solche Putsche zu organisieren, verboten. Auch die Zusammenarbeit mit ihnen und der Besuch ihrer Seminare, auf denen die Techniken des Regimechange gelehrt werden, stehen in Russland inzwischen unter Strafe.

Ohne die Koordination von Protesten durch westliche NGOs sind Farbrevolutionen, bei denen eine laute und gewaltbereite Minderheit koordiniert vorgeht, nicht möglich. Und so, wie auch Deutschland jeden Versuch eines Regimechange sofort unterbinden würde, anstatt ein illegales Protestcamp, das einen Regimechange in Deutschland fordert, wochenlang im Zentrum von Berlin zu dulden, so würde auch Russland derartige Versuche im Keim ersticken.

Eine Farbrevolution ist in Russland daher unwahrscheinlich.

Ein pro-westlicher Regierungsumsturz, der vom Volk ausgeht, ist in Russland vollkommen undenkbar, denn in Russland gibt es in der Bevölkerung dafür keine Mehrheit. Die Mehrheit der Russen möchte nicht in einem System westlicher Prägung leben, und das gilt auch für die führenden Köpfe in Ministerien, Behörden und Medien.

Das ist keineswegs meine eigene Einschätzung, das ergeben Umfragen, die ein – nicht eben pro-russisches Institut – seit vielen Jahren durchführt. Die Mehrheit der Russen möchte nicht in einem politischen und wirtschaftlichen System westlicher Prägung leben. Laut der letzten Umfrage zu dem Thema wollten nur 24 Prozent der Russen in einem Wirtschaftssystem nach westlichem Vorbild und sogar nur 16 Prozent der Russen wollten in einem politischen System nach westlichem Vorbild leben, die Details der Umfragen finden Sie hier.

Was wäre, wenn Putin morgen nicht mehr Präsident ist?

Mein Buch über Putin ist hier eine sehr empfehlenswerte Lektüre, denn ich habe das Buch lange vor der aktuellen Eskalation geschrieben. Man kann in dem Buch sehr deutlich sehen, dass Putin immer bis zuletzt auf Verhandlungen mit dem Westen gesetzt hat. Dass Putin nun die Intervention in der Ukraine angeordnet hat, dürfte die schwerste Entscheidung seines Lebens gewesen sein. Immerhin hätte Putin, wenn das sein Ziel gewesen wäre, in der Ukraine schon 2014 vollendete Tatsachen schaffen können, als die ukrainische Armee faktisch nicht existent war.

Das ist es auch, was Putin in Russland von vielen vorgeworfen wird: Er hat all die Jahre zu zögerlich gehandelt, indem er auf Verhandlungen mit dem Westen gesetzt hat, obwohl die USA einen Vertrag mit Russland nach dem anderen einseitig gekündigt haben. Der Westen hat diese Zeit genutzt, um die Ukraine politisch und militärisch zu einem Brückenkopf gegen Russland auszubauen. Die Hardliner Russlands sehen sich im Recht und sagen, mit dem Westen so lange zu verhandeln, war ein Fehler, der nur dem Westen geholfen hat. Die Stimmen derer, die eine härtere Gangart fordern, werden in Russland lauter.

Wenn also das eintreten würde, was sich im Westen viele wünschen, nämlich dass Putin von der Macht entfernt wird, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass nach Putin ein Präsident kommen würde, der eine weitaus härtere Gangart einschlägt und weitaus weniger bereit ist, mit dem Westen überhaupt noch zu reden.

Putin hat seine Amtszeit vor über 20 Jahren damit begonnen, in seiner Rede im deutschen Bundestag ein Zusammengehen von Russland und Europa vorzuschlagen. Das war 20 Jahre lang sein Ziel: Eine wirtschaftliche und kulturelle Partnerschaft auf dem Eurasischen Kontinent, die die Länder von Lissabon bis Wladiwostok umfasst. Erst vor recht kurzer Zeit, vor vielleicht einem oder zwei Jahren, hat die anti-westliche Politik der EU dazu geführt, dass Putin einsehen musste, dass das unrealistisch ist.

Das bemerkt man auch an seiner Wortwahl. In meinem Buch über Putin stellt man fest, dass er die EU und ihre Mitglieder nie verbal angegriffen hat. Seine sehr deutliche Kritik richtete sich immer an die USA, denn Putin hatte die Hoffnung, dass eine starke EU irgendwann in der Lage sein könnte, für ihre eigenen Interessen einzustehen und sich von der Dominanz der USA zu befreien. Daher hat er sich lange alle Mühe gegeben, niemanden in Europa zu verärgern. Die letzten ein oder zwei Jahre haben aber endgültig gezeigt, dass es derzeit illusorisch ist, dass die EU sich von dem Diktat der USA befreit.

Dass diese Interpretation von mir richtig sein dürfte, sieht man an Putins Wortwahl. Während Putin 20 Jahre lang von den „europäischen Partnern“ gesprochen hat, spricht er heute nur noch von den europäischen „Vasallen“ oder „Satelliten“ der USA. Putin – und mit ihm die russische Regierung – sehen die EU und ihre Mitglieder nicht mehr als Player in der internationalen Politik, sie sehen in der EU nur noch einen Erfüllungsgehilfen, eine Kolonie, der USA. Und so, wie es im 19. Jahrhundert keinen Sinn gemacht hätte, mit Indien über irgendwas zu verhandeln, weil die Entscheidungen für Indien in London getroffen wurden, so sieht man in Moskau auch keinen Sinn mehr in Gesprächen mit der EU und ihren Mitgliedern, denn ihre Entscheidungen werden in Washington getroffen.

Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Putin – sollte er aus irgendeinem Grunde plötzlich die Macht verlieren – von jemandem ersetzt wird, der gegenüber dem Westen eine weitaus härtere Linie verfolgen würde. Und das ist der Grund, weshalb all die Forderungen im Westen, nicht mehr mit einem von Putin angeführten Russland zu reden, ein Ausdruck von politischem Unwissen sind. Wenn der Westen mit Russland eine Verhandlungslösung erreichen wollte, müsste er das versuchen, solange Putin russischer Präsident ist. Danach dürfte das wesentlich schwieriger werden.

Die tatsächlichen Entscheidungsträger im Westen dürften das wissen, weshalb man davon ausgehen kann, dass die keine Verhandlungslösung wollen. Sie wollen Russland in die Knie zwingen, auch wenn Putin morgen nicht mehr Präsident wäre. Ihnen geht es um Russland selbst, um seine Bodenschätze, die man unter Kontrolle bekommen, und um seine geopolitische Macht, die man brechen möchte.

Politiker, die nun fordern, nicht mehr mit Putin zu verhandeln und auf einen Machtwechsel in Russland setzen, sind für die wahren Entscheider der westlichen Politik sehr nützliche Idioten, die ihre Forderungen nur aus Unkenntnis stellen, weil sie die Lage in Russland gar nicht kennen, sondern selbst der westlichen Propaganda zum Opfer gefallen sind, die behauptet, die Russen würden sich nach einer Demokratie nach westlichem Vorbild sehnen. Wie die Umfragen zeigen, ist das jedoch Unsinn, nur das dürften die wenigsten im Westen, die Politiker eingeschlossen, wissen.

Daher sollte der Westen froh sein, dass es Putin gibt. Ohne ihn würde Russland wahrscheinlich noch viel anti-westlicher auftreten.

Quelle: anti-spiegel.ru